Die Strobler Thesen zur Sprachenpolitik wurden 1994 vom Vorstand, von Mitgliedern und FreundInnen des ÖDaF erarbeitet und von der Mitgliederversammlung bei der 10. Jahrestagung im November 1994 in Wien angenommen. Die Thesen formulieren jene sprachenpolitischen Grundsätze, auf die sich der ÖDaF in seiner Inlandstätigkeit, bei seinen Auslandskontakten und bei seinen Kooperationen bezieht. Insofern können die Strobler Thesen auch als Visitenkarte des ÖDaF gelesen werden. Wir verstehen die Strobler Thesen als Bezugsrahmen für alle Mitglieder des ÖDaF und hoffen, mit ihnen einen Ausgangspunkt für die dringend nötige, breite Diskussion der Sprachenpolitik in Österreich zu setzen sowie eine Konsolidierung unserer Arbeit im Ausland zu erreichen.
Präambel
Die Strobler Thesen des ÖDaF sind das Ergebnis einer eingehenden Auseinandersetzung mit der österreichischen Sprachenpolitik. Sie fassen die Positionen und Meinungen des ÖDaF zusammen und verstehen sich als Beitrag, die Diskussion im öffentlichen und politischen Diskurs zu verankern.
Sie orientieren sich an den veränderten politischen und wirtschaftlich-sozialen Bedingungen und beziehen sich sowohl auf die Situation im Inland als auch im Ausland.
Die Thesen sind den folgenden drei Grundgedanken verpflichtet:
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Eine demokratische und von den Menschenrechten geleitete Sprachenpolitik geht von Mehrsprachigkeit aus.
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Österreich war immer und ist auch heute multiethnisch.
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Deutsch ist eine plurizentrische Sprache.
Ziel jedes sprachenpolitischen Engagements ist die Förderung der Mehrsprachigkeit. Dies schließt die Durchsetzung einer Sprache auf Kosten anderer Sprachen aus. Zur Erreichung dieses Ziels ist die Kooperation mit Institutionen und ExpertInnen anderer Sprachen anzustreben. Kooperation bezieht sich auf die bildungspolitische Verankerung von Sprachenlernen in allen Bereichen der Gesellschaft, auf Abstimmung von Lehrplänen und Prüfungsordnungen, auf LehrerInnenausbildungscurricula und auf Fragen der Sprachdidaktik und der Sprachmethodik. Eine solche Kooperation hat Synergiewirkung.
Unter Kooperation ist auch eine verstärkte Beteiligung Österreichs an internationalen Projekten zu verstehen - Projekten der Vereinten Nationen, des Europarates, der Europäischen Union.
Die Grundvoraussetzung für eine eigenständige, zielorientierte und transparente Sprachenpolitik Österreichs nach innen und nach außen ist jedoch eine Erklärung zur österreichischen Sprachenpolitik von offizieller Seite. Denn erst eine solche Erklärung macht stringente Entscheidungen möglich.
Anzuregen ist zu diesem Zweck eine wissenschaftlich fundierte kritische Bestandsaufnahme aller expliziten und impliziten sprachenpolitischen Regelungen einschließlich der gesetzlich verankerten Regelungen in der Bundesverfassung, in den Schulgesetzen, in Volksgruppen- bzw. Minderheitenrechten, im Fremdenrecht, in den Mediengesetzen, in den Erklärungen und Konventionen zu den Menschenrechten auf der Ebene der Vereinten Nationen, des Europarates, der Europäischen Union, der KSZE.
Sprachenpolitik nach außen
These 1
ExpertInnen in Sprachenfragen werden von den PartnerInnen im Ausland als FachexpertInnen zu Kooperationen eingeladen. Basis und Legitimation jeglicher Kooperation ist daher die fachliche Kompetenz.
Die Erwartung der PartnerInnen im Bereich Deutsch als Fremdsprache (DaF) bezieht sich im Wesentlichen auf die didaktisch-methodische Kompetenz, auf Fachwissen über Organisationsformen westlicher Bildungssysteme, auf curriculare Fragen und auf sprachliche Fähigkeiten, die dem muttersprachlichen Niveau gleichkommen.
Diese Interpretation der Anforderung an DaF-ExpertInnen schließt die Berufung auf den Status als BürgerIn und/oder VertreterIn einer Institution eines deutschsprachigen westlichen Landes als Hauptkriterium für Kooperationsqualifikation aus.
These 2
Die Kooperationen mit den Partnerländern entstehen im Rahmen konkreter Projekte.
In diesen Projekten arbeiten ExpertInnen der Partnerländer mit ExpertInnen aus deutschsprachigen Ländern und/oder aus Ländern mit anderen Zielsprachen zusammen. Diese Zusammenarbeit ist getragen vom ständigen Bemühen um einen gleichberechtigten Diskurs aller Beteiligten. Basis der Kooperation ist Gleichwertigkeit, Symmetrie und Sensibilität.
Um Gleichwertigkeit und Symmetrie zu sichern und Sensibilität zu ermöglichen und zu fördern, bedarf es detaillierter projektbezogener Absprachen zwischen den KooperationspartnerInnen auch auf institutioneller Ebene.
These 3
Um den Anforderungen der PartnerInnen an die fachliche Kompetenz gerecht zu werden, ist Professionalisierung notwendig.
Professionalisierung schafft klare Berufsbilder und Anforderungsprofile, sichert eine fundierte Aus- und Weiterbildung der ExpertInnen sowie die ständige Reflexion des Selbstverständnisses durch einen innerösterreichischen Diskussionszusammenhang. Sie sorgt für die Rückbindung der im Ausland erworbenen Fertigkeiten und macht sie für Österreich nutzbar.
Auslandstätigkeit ist als ein Qualifikationskriterium anzuerkennen und muss zumindest in die Aus- und Weiterbildung im DaF-Bereich einbezogen werden. Gezielte Reintegrationsmaßnahmen müssen die ExpertInnen in arbeits- und sozialrechtlicher Hinsicht entlasten.
These 4
Voraussetzung für Synergiewirkung ist die Vernetzung der Aktivitäten, die Evaluation der Kooperationen und die Sicherung der Informationsweitergabe. Die Übertragung fachlicher Fragen sowie fachlicher Entscheidungen in die Hände von Fachleuten ist unerlässlich für Transparenz und Qualität.
Die Einrichtung einer Plattform, die allen fachlich und organisatorisch mit dem Bereich Befassten offensteht, ist anzustreben. Sie hat die Aufgabe, Leitlinien zu formulieren, fachliche Expertisen auszuarbeiten und bei politischen Entscheidungen Empfehlungen abzugeben. Diese Plattform delegiert Teilgebiete an jeweils einzurichtende Untergruppen, die im Rahmen der Leitlinien der Gesamtplattform konkrete Projekte plant, ausarbeitet und durchführt.
Sprachenpolitik nach innen
These 5
Sprachenpolitik im Inland ist ein Beitrag unter anderen zur Lösung anstehender gesamtgesellschaftlicher Probleme.
Integration und angemessene Gleichstellung der AusländerInnen mit den InländerInnen und Verwirklichung der Menschenrechte in Österreich ist durch Bildungspolitik alleine nicht zu erreichen. Dazu sind politische Maßnahmen in allen gesellschaftlichen Bereichen notwendig. Bildungspolitische Maßnahmen können nur dann voll wirksam werden, wenn gleichzeitig auch entsprechende Maßnahmen im Bereich der Wohnungspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Fremdengesetzgebung, Asyl- und Einreisepolitik gesetzt werden.
These 6
Sprachenvielfalt ist gesellschaftliche Realität in Österreich. Dieser Realität kann man mit einer an Monolingualität orientierten Haltung nicht gerecht werden.
Zukunftsorientierte sprachenpolitische Maßnahmen müssen einem multilingualen Konzept verpflichtet sein. Ein multilinguales Konzept begreift Mehrsprachigkeit und sprachliche Vielfalt, worunter auch die regionalen und sozialen Varianten des Deutschen zu verstehen sind, als Herausforderung, Chance und Bereicherung und nicht als Defizit und Belastung.
Es muss ein Bildungssystem entwickelt werden, das multilingual angelegt ist und grundsätzlich die Sprache/n eines Menschen fördert: Muttersprache/n, Landessprache/n und Fremdsprache/n in allen Sozialisations- und Bildungseinrichtungen.
Mehrsprachigkeit als Wert muss Selbstverständlichkeit werden und in alle gesellschafts- und bildungspolitischen Maßnahmen einfließen.
These 7
Ein multilinguales Bildungssystem braucht eine multilinguale Pädagogik.
Dazu ist ein Paradigmenwechsel in der Pädagogik erforderlich:
Multilinguale Pädagogik ist eine sich zur Verfügung stellende Pädagogik. Sie vertraut auf die Fähigkeit und die Freude der Menschen zu lernen und schafft den Raum, der Lernen stattfinden lässt. Sie verfolgt emanzipatorische Ziele und arbeitet integrativ. Diese Pädagogik verwechselt nicht Integration mit Assimilation, verlangt also keine Anpassungsresultate von den Lernenden.
Sie ist vom Prinzip der Nicht-Segregation nach nationalen und muttersprachlichen Kriterien geleitet, vom Prinzip des Anti-Rassismus und vom Prinzip der größtmöglichen Offenheit und Durchlässigkeit im System. Durchlässigkeit des Systems muss für SchülerInnen und Unterrichtende gleichermaßen gelten.
Die traditionellen Vorstellungen von Lehr- und Lernprozessen sind zu revidieren und das herkömmliche Rollenverständnis von Lernenden und Lehrenden muss neu definiert werden. Basis ist ein gemeinsames, partnerschaftliches Lernen aller am Unterricht Beteiligten. Lernprozesse sind in diesem Verständnis reziprok.
Kompensatorisch orientierte pädagogische Konzepte müssen durch emanzipatorische und integrative ersetzt werden. Segregationsmodelle sind Auslaufmodelle und gesellschaftspolitisch kontraproduktiv.
Bildungs- und Lehraufgabe, Lehrstoff und didaktische Grundsätze der Lehrpläne sollen im Sinne einer multilingualen Erziehung formuliert werden.
In der LehrerInnenaus- und -fortbildung sollen Ausbildungsinhalte auf Mehrsprachigkeit orientiert werden. Mehrsprachige Lehrkräfte sollen für den Beruf gewonnen werden.
Der gemeinsame Unterricht für in- und ausländische SchülerInnen in allen Schultypen muss leitendes Prinzip sein.
These 8
Das Recht auf Muttersprache ist ein Menschenrecht und besteht unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Es ist Bestandteil demokratischer Bildungsinhalte, die eine Erziehung zur gegenseitigen Achtung und Toleranz mit dem Ziel der Sicherung des Friedens verfolgen.
Der Erwerb der Muttersprache, der Erwerb einer Landessprache und der Fremdsprachenerwerb sind miteinander vereinbar. Sie stehen nicht in Widerspruch zueinander. Ein solcher Widerspruch darf durch bildungspolitische Maßnahmen nicht künstlich erzeugt werden, indem eine andere Muttersprache als Deutsch zu Benachteiligungen und Chancenungleichheit im Bildungsweg führt.
Es muss eine Pädagogik, Methodik und Didaktik entwickelt werden, die mehrsprachige Sozialisationsverläufe zulässt und unterstützt.
Die Integration der Herkunftssprachen von MigrantInnen in das gesamte Bildungssystem ist unabdingbare Voraussetzung für eine gesellschaftlich abgesicherte und akzeptierte Mehrsprachigkeit.
Für alle Schulstufen und Schultypen bedeutet dies, dass neben dem Muttersprachenunterricht auch muttersprachlicher Fachunterricht gefördert werden muss, um volle muttersprachliche Kompetenz sicherzustellen.
Unterrichtende von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) sind auch cultural facilitators, indem sie die Nahtstellen zwischen den Kulturen bilden. Bei dieser Aufgabe müssen sie durch entsprechende Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen unterstützt werden. Sie müssen jedoch von der Erwartung entlastet werden, neben ihrer Unterrichtstätigkeit auch die Rolle eines/einer SozialarbeiterIn, Job- und WohnungsvermittlerIn zu übernehmen.
Damit die in vielen Bereichen bereits geleistete Arbeit auf dem Gebiet DaZ und Interkulturelle Bildung für die Zukunft fruchtbar gemacht werden kann, sind langfristiges Planen, mehr Koordination und verstärkte Evaluation dringend nötig.
Auf der Forschungsebene betrifft dies empirische und didaktische Grundlagenforschung, universitäre angewandte Forschung und pädagogische Tatsachenforschung im Rahmen der Pädagogischen Akademien und Pädagogischen Institute.
Conclusio
"Man kann nicht nicht Sprachenpolitik betreiben.
Nicht-aktive Sprachenpolitik ist auch Sprachenpolitik."
Von dieser Erkenntnis ausgehend will der ÖDaF mit den Strobler Thesen sprachenpolitische Perspektiven aufzeigen und geeignete Maßnahmen vorschlagen. Der ÖDaF will damit zu einer dynamischen Auseinandersetzung einladen. Wir hoffen, dass im Zuge einer umfassenden und breitgestreuten Diskussion die Grundlagen für eine aktive, nachhaltige, transparente, übergreifend koordinierte, eigenständige und international orientierte österreichische Sprachenpolitik geschaffen werden können.